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Eng verbunden mit vorigem Punkt, aber darüberhinausgehend, sind die Syntax (Satzbau) und die Tempora (Zeitstufen; Sg. Tempus) eines Gedichts.
Tempora
Am leichtesten zu ermitteln sind die Zeitstufen.
In der Lyrik überwiegt zwar eindeutig das Präsens, da die Hörer / Leser (Genera) so unmittelbar am Geschehen und an der Gefühlswelt des lyrischen Ichs teilhaben können (vgl. dramatisches Präsens).
Jedoch erscheinen auch immer wieder andere Zeitstufen, besonders das Präteritum. Dann gewinnt die Passage erzählenden Charakter (vgl. episches Präteritum).
Bisweilen tauchen dazwischen auch Perfekt-Formen auf, doch gehen diese scheinbaren Tempus-Wechsel oftmals darauf zurück, ein durchgehendes Metrum einhalten zu wollen.
Anmerkung: Streng genommen wird in der deutschen Grammatik das Perfekt als „Vollendete Gegenwart“ definiert. Somit ist die Bezeichnung „2.Vergangenheit“ leicht irreführend.
Besonders die häufige Verwendung des Perfekts im gesprochenen Deutschen fällt eine Unterscheidung vom Präteritum bisweilen nicht ganz leicht.
Exkurs: Ausnahmsweise ist hier das Englische, zumindest das britische, wesentlich genauer. Wenn wir etwa am Telefon fröhlich davon erzählen, was wir gestern alles so Tolles gemacht haben und dabei fast jeden Satz einleiten mit „Ich habe dies getan…; Ich bin gewesen…“, heißt es auf Englisch – wegen des Signalworts „yesterday“ – automatisch „I did this and that…; I was…“, also unter Verwendung des „simple past“, das dem deutschen Präteritum entspricht.
Modus
Zu einer finiten Verbform gehört immer auch ein Modus. Wenn dieser vom Indikativ (Wirklichkeitsform) in den Konjunktiv (Möglichkeitsform) wechselt, ergeht sich das lyrische Ich oftmals in Spekulationen.
Entsprechend ist es dann fast immer der Konjunktiv II, leicht zu erkennen an den Umlauten (ä, ö, ü) oder an den Formen „wäre, hätte, würde“.
Gleiches gilt für die Modalverben (können, müssen, dürfen, mögen, wollen, sollen).
Syntax
Beim Satzbau unterscheidet man die Parataxe (Nebenordnung) und die Hypotaxe (Unterordnung).
Parataktisch gebaute Sätze sind aneinander gereihte Hauptsätze, die entweder unverbunden
nebeneinandergestellt oder durch Konjunktionen wie „und, aber, oder“ miteinander verknüpft
werden.
Hypotaktisch gebaute Sätze bestehen aus Haupt- und Nebensätzen. Letztere werden durch
entsprechende Konjunktionen eingeleitet, etwa „als, nachdem, da, weil; dass“.
Eine leichte Möglichkeit zu überprüfen, ob ein Nebensatz vorliegt, ist es, das Komma durch einen Punkt zu ersetzen. Wenn das Ergebnis ein vollständiger Satz ist, der alleine stehen kann (Subjekt und Prädikat enthält), dann ist es eben ein Hauptsatz, ganz gleich wie kurz er ist. Beispiel: „Sarah liest.“
Zwei Figuren
Hier finden auch die beiden Stilmittel Parallelismus und Chiasmus ihren Platz. Sie entstehen
durch eine bestimmte Anordnung von Wörtern, betreffen also die Wortstellung im Satz.
Parallelismus: (altgr. „nebeneinander“)
Sich entsprechende Wörter oder Satzteile erscheinen in gleicher Reihenfolge.
Beispiel:
Der Wahn ist kurz,
die Reu ist lang
(Schiller, „Das Lied von der Glocke“)
Chiasmus: (der altgr. Buchstabe X steht für den Laut Chi)
Sich entsprechende Wörter oder Satzteile erscheinen in über Kreuz gestellter Reihenfolge.
Beispiel:
Die Kunst ist lang,
und kurz ist unser Leben
(Goethe, Faust I)
Zwei in der Lyrik äußerst häufige Figuren
Ebenso passen hierher die beiden Stilmittel Anapher und (ihr Gegenstück) Epipher.
Anapher: (altgr. „Wiederholung“)
Wiederholung eines oder mehrerer Wörter am Anfang aufeinanderfolgender Sätze oder
Satzteile, Verse (oder auch Strophen).
Beispiel:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein
(Goethe, Faust I)
Epipher: Wiederholung eines oder mehrerer Wörter am Ende aufeinanderfolgender Sätze oder
Satzteile, Verse (oder auch Strophen).
Beispiel:
Er will alles, kann alles, tut alles.
Anmerkung: Die äußerst seltene Verbindung von Anapher und Epipher heißt Symploke.
Jetzt, da wir die Satzebene untersucht haben, wie steht es denn nun um die Bedeutungen der
verwendeten Wörter, um die Semantik?